arnulf rohsmann - kunst und zeit

Die Bruecke Kulturzeitschrift, 2022

kunst und zeit

1.

gibt es nur eine einzige zeit und wie manifestiert sie sich in der bildenden kunst?

die besteht längst nicht allein aus leinwänden, bronzen und marmor; prozesse, handlungsanweisungen und konzepte haben den alten kunstbegriff erweitert. mit der raumzeit ist auch die auffassung einer linearen zeit in der kunst obsolet geworden.

vorher schon wurde differenziert zwischen temps und durée, zwischen zeit und dauer, zwischen dem verlauf und der erfahrung von zeit, zwischen der normzeit und der dehnbaren zeit.

der zentrale konflikt von zeit und bildender kunst ist es in einem medium veränderungen zu zeigen, das für bewegungen nicht geeignet ist, weil es selbst starr ist - das bild, die plastik. erst der film und die realzeitsysteme boten den ausweg. in den realzeitsystemen stellen sich abläufe selbst dar, also 1 zu 1: das ausrollen von stoffbahnen bei f. e. walther, jean tinguelys maschinen. in der 1 zu 1 präsenz gibt es keine raffung, keine streckung von zeit und kein splitting von prozessen.

sonst arbeitet die bildende kunst mit zeit-äquivalenten. dabei werden handlungen entweder in phasen geteilt, oder in wendepunkten komprimiert.

längere abläufe werden zu szenenfolgen zerschnitten, in den mittelalterlichen heiligengeschichten der altar-predellen und in den comic strips; kurze abläufe werden in der wissenschaftlichen fotografie bei eadweard muybridge (1878) und etienne-jules marey (1882) systematisch zerlegt.

die wendepunkte haben meist einen individualgeschichtlichen, mythologischen

oder historischen themenansatz: caravaggio lässt paulus vom pferd stürzen;

der sturz bewirkt eine biografische wende. die historienmalerei ruft politische

wendepunkte der geschichte aus oder bestätigt sie, unabhängig vom

wahrheitsgehalt.

der fruchtbare  augenblick, ursprünglich von lessing (1766) bezogen auf die

laokoon-gruppe im vatikanischen museum, verdichtet den wandel eines  

geschehens der vorher-nachher-relation in einen gegenwartspunkt.

 

 

2.

zeit in der bildenden kunst braucht einen gegenstand der beobachtung.

das kann ein vorgang sein, ein wechsel, der stillstand etc.

dieser benötigt ein beobachtendes subjekt oder eine inszenierende instanz.

häufig ist sie der künstler, bisweilen die physik oder die natur, wie  bei cornelius

koligs schmelzendem eisklotz oder regina  hübners salzwaage.

ausserhalb der kunst existiert auch eine zeit von prozessen, auch von bloss

gedachten prozessen, die mit dem menschlichen sensorium nicht erfasst

werden können, sondern nur rechnerisch. das führt zu einer subjektlosen zeit,

die unabhängig von einem beobachter ist.

 

wenn zeit als inhalt von zeiterfahrung bildmässig umgesetzt wird, sei es dauer,

geschwindigkeit oder momenthafte entladung, dann wird meist das subjekt

zum beobachter seiner selbst;  und das ist der künstler. das gilt auch für

konstruierte situationen im bild, im video und in den installationen.

kurz: das eine ist die darstellung von zeit, das andere ist die wahrnehmung und

die erfahrung von zeit.

die darstellung ist objektivierbar; die zeiterfahrung ist subjektabhängig.

zeit ist auch der versuch ordnung in abläufe zu bringen, die zuerst nicht 

überschaubar sind. sie legt einen beobachtungsraster über die ereignisse und

der beobachter selektiert dabei rigoros. er nimmt das ordnungs- und

auslegungsmonopol für sich in anspruch. so kann zeit auch zum werkzeug

werden, insbesondere in der darstellung historischer vorgänge.

mit der fixierung auf die linearität von einzelnen vorgängen tritt deren  

mögliche parallelität in den hintergrund. abläufe können einander auch

kreuzen. jeder ablauf hat seine eigene zeit.

 

was passiert in der kunst, wenn ihr abläufe besonders wichtig sind, wenn sie

neutral thematisiert werden, oder gar nicht vorkommen?

 

3.

die grossglockner-bilder des markus pernhart scheinen vorerst von der zeitlosigkeit bestimmt, das heisst von der abwesenheit von veränderung. die stille der hochgebirgslandschaft ist hier eine verklärende stille abseits der dortigen stürme und gefahren. sie suggeriert stillstand.

der konflikt besteht zwischen der zeitlosigkeit und der historischen aktualität. die winzigen gipfelstürmer repräsentieren die aneignung der alpinen landschaft im 19. Jahrhundert.

 

ludwig willroiders viktringer park (1891) ist das areal der spazierenden fabrikantengattinen. sie geniessen die schwelle zur zeitlosigkeit. für sie gilt kein produktionsdruck, wie für die frauen in der wenige meter entfernten textilfabrik. die mit dem genuss des ambiente aufgefüllte leere der zeit der spazierenden kollidiert mit der sozialen realität der gepressten zeit der textilarbeiterinnen, die im bild verschwiegen werden. der maler war nicht auf ihrer seite.

 

cornelius kolig greift die ästhetik der langsamkeit wieder auf. er demonstriert sie mit einem realzeitsystem. ein grosser block aus tiefgefrorenem roten fruchtsaft schmilzt kontinuierlich während der mehrwöchigen ausstellungszeit. dabei zerstört sich die materiale substanz des werkes selbst. die andere komponente des werks ist der lange schmelzvorgang. dabei wird der begriff der flüchtigkeit von prozessen überstrapaziert, da sie hier gedehnt ist und so zu ihrem eigenen widerspruch wird, beruht sie doch auf der kürze.

peter krawagna versucht einen lichtreflex zeichnerisch zur fixieren. doch der reflex ist flüchtig und verschwindet von seiner projektionsfläche in das visuelle gedächtnis.

 

regina hübner setzt  im video  zeit das instrument der verzögerung ein, wenn milch extrem verlangsamt in einen roten raum tropft. breitet sie sich zu einem see aus, füllt sie den raum, dann tritt das unerwartete ein. der prozess des tropfens wird verkehrt, der tropfen geht zu seinem ausgangspunkt zurück, wird nach oben gesaugt. die schwerkraft wird ignoriert und die richtung der zeit wird umgedreht; das tropfen wird rückgängig gemacht. in der physik schliesst der thermodynamische hauptsatz die umkehr der zeitrichtung aus. der rezipient erfährt die zeit-dehnung durch das tropfen und ihr gegenteil, den moment, durch die plötzliche umkehr der zeitrichtung.

das umkehrprinzip liegt auch dem video mit der waage regina hübners  zu grunde. die beiden waagschalen sind anfangs salzbefüllt. dann rieselt das salz weg. am wendepunkt sind die schalen leer und die füllrichtung ändert sich. am ende sind die schalen wieder voll.

 

hans staudacher geht in seinen NU-bildern von der momentanen psychischen befindlichkeit aus. er nennt sie NU, weil sie im nu enstehen, also in einem kurzen produktionakt. da ist kein spielraum für die ratio, da entfällt die komposition. er verbindet die informellen grafismen mit verbalen elementen, die emotional oder politisch aufgeladen sein können.

hatten cornelius kolig und regina hübner die zeiterfahrung der anderen thematisiert, so setzt hans staudacher die eigene zeiterfahrung im bild um und zwar in der komprimierung des malaktes, im nu. das zeitgedränge findet die entsprechung im farb- und fomgedränge.

 

hermann nitsch arbeitet in den schüttbildern mit der radikalen verkürzung des malaktes. er reduziert ihn auf das formal nicht kontrollierte schütten der farbe auf die leinwände. massgeblich sind der körpereinsatz, die physis der breiigen farbe und die konzeption der serie, die auch formgebend wirkt und das farbschleudern abbildet.

 

die zeiten sind also nicht gleich lang. sie werden relativiert durch den darstellungs- und den erfahrungsanspruch.

 

 

                                                                                                     arnulf rohsmann